Titel
Europa in den Augen Bismarcks. Bismarcks Vorstellungen von der Politik der europäischen Mächte und vom europäischen Staatensystem


Autor(en)
Haffer, Dominik
Reihe
Otto-von-Bismarck-Stiftung, Wissenschaftliche Reihe 16
Erschienen
Paderborn 2010: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
723 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Guido Thiemeyer, Institut für Europäische Regionalforschungen, Universität Siegen

Die Marburger Dissertation von Dominik Haffer greift ein Thema auf, das in der Geschichtswissenschaft seit einigen Jahren intensiv diskutiert wird. Es geht um den Begriff „Europa“ und seine Bedeutung zu verschiedenen Zeitpunkten. Auch heute ist keineswegs klar, was hierunter zu verstehen ist. Es gibt politische, wirtschaftliche, kulturelle und geographische Europa-Vorstellungen, die ihrerseits wieder – je nach Perspektive – sehr unterschiedlich sein können. Vorausgesetzt wird immer, dass es ein nationenübergreifendes Bild von „Europa“ gibt, ein einigendes Element, das sehr verschiedene Formen annehmen kann und grundsätzlich dynamisch ist. Unter diesen Voraussetzungen ist es durchaus sinnvoll zu fragen, welche Bilder von Europa eine der dominierenden Persönlichkeiten der europäischen Politik des 19. Jahrhunderts, Otto von Bismarck, entwickelte.

Die Studie ist chronologisch angelegt und untersucht das Europa-Bild Otto von Bismarcks von seiner politischen Sozialisation im Studium in Göttingen bis in die 1870er-Jahre hinein. Sehr detailliert und auf breiter Quellen- und Literaturbasis beschreibt Haffer die Entwicklung des Bismarckschen Europa-Bildes. Das ist insofern eine beeindruckende Fleißarbeit, als dass der Autor die wesentlichen außenpolitischen Schritte Bismarcks von seiner Zeit als preußischer Gesandter beim Deutschen Bund bis zum Kanzler des Deutschen Reiches nachzeichnet. Hierbei geht er ausführlich auf Fragen ein, die seit Jahrzehnten umstritten sind, sei es die preußische Rolle im Krimkrieg, der Konflikt um Schleswig-Holstein, der deutsche Krieg oder die Reichsgründung. Zu allen diesen Fragen hat er die bereits bekannten Quellen neu gelesen und zum Teil auch unbekanntes Archivmaterial für seine Interpretation herangezogen. So entsteht – durchaus teilweise in Abgrenzung zu bestehenden Forschungen – ein detaillierter Blick auf die außenpolitischen Vorstellungen Otto von Bismarcks zwischen 1848 und 1871. Die Zeit zwischen 1874 und 1889 wird im Vergleich zu den Jahren zuvor kursorisch behandelt.

Leider bleiben trotz dieser immensen Fleißarbeit wesentliche Ergebnisse unbefriedigend. Das betrifft zum einen die zentrale Frage nach dem Europa-Bild Bismarcks. Lothar Gall hatte noch festgestellt, dass Europa für Bismarck allenfalls den strukturellen Rahmen bildete, in dem „die einzelnen Nationen übergreifenden Entwicklungen und Entwicklungstendenzen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft“ zusammenfließen.1 Haffer konkretisiert dies, wenn er argumentiert, dass „Europa“ für Bismarck aus vier Grundsätzen bestand: Solidarität, Zurückhaltung, Vertragstreue und Kooperation. Gleichzeitig schränkt er ein: „[…] es wird aber zugleich deutlich, dass ein Festhalten an ihnen nicht unbegrenzt stattfand, sofern daraus ein zu großer Nachteil für Preußen resultierte“ (S. 131). Mit Europa-Vorstellungen, wie sie etwa Viktor Hugo 1849 in seinem berühmten Vortrag äußerte, konnte Bismarck nichts anfangen. An anderer Stelle fasst Haffer Bismarcks Europa-Bild in drei Elementen zusammen: „Erstens die Ablehnung jeder Art von gesamteuropäischer Ideologie, zweitens die Anerkennung der Großmächte als Subjekte der europäischen Politik im Gegensatz zu den Klein- und Mittelstaaten sowie drittens die Akzeptanz der Interessen dieser Mächte.“ (S. 303) In der Schlussbetrachtung attestiert er Bismarck den Willen zur „Etablierung eines internationalen Systems als friedenserhaltendem Mittel“ auf der Basis der „Verfolgung einer wohlverstandenen, verantwortungsvollen und ausgleichenden, aber zugleich eigenständigen und interessenorientierten Politik durch alle an der europäischen Politik beteiligten Staaten“ (S. 662f.).

Was aber genau heißt hier „Europa“? Nur implizit werden bei der Lektüre mindestens drei verschiedene Europa-Begriffe bei Bismarck deutlich:

Erstens verstand er darunter ein vor allem von den Regierungen der Großmächte getragenes politisches System, dessen primäres Ziel die Friedenserhaltung war. „Europa“ bestand aus Regeln, die im Kern durch die Wiener Ordnung vorgegeben wurden, allerdings dynamisch waren. So musste unter den Regierungen der Großmächte immer wieder neu ausgehandelt werden, was „Europa“ war, welche Regierung hierzu gehörte und welchen Regeln die Regierungen unterworfen waren. Diesen Begriff von „Europa“ bei Bismarck stellt Haffer in den Mittelpunkt, eine genaue Beschreibung seiner Wandlungen bleibt jedoch leider aus.

Eine zweite Bedeutungsebene von „Europa“ wird allenfalls angedeutet: Sie wird beispielsweise deutlich an der Einschätzung der „Europäischen Donaucommission“ durch Bismarck. Deren Bedeutung sah er vor allem darin, „diesen Zustand [die Freiheit der Donau-Schifffahrt, GT] zu erhalten und zu diesem Zwecke bedarf es einer kräftigen, über die Verfolgung lokaler oder nationaler Interessen erhabenen, lediglich das allgemeine Interesse des Handels und der Schifffahrt wahrnehmenden Leitung“ (Bismarck an Reuss, 10. Januar 1871, zitiert nach Haffer, S. 249). Es gibt also aus der Perspektive Bismarcks durchaus ein „europäisches“, übernationales Interesse der Wirtschaft. Ähnlich argumentierte Bismarck in Bezug auf die Vereinheitlichung der europäischen Währungen, auch dies wird in der Studie allerdings nur am Rande erwähnt.

Ebenfalls am Rande wird ein dritter Begriff von „Europa“ bei Bismarck deutlich, wenn er von der „Fragwürdigkeit europäischer Gesittung in der russischen Welt“ (S. 74) schreibt. Haffer deutet hier an, dass Bismarck auch eine kulturell geprägte Vorstellung von „Europa“ hatte, die Idee einer europäischen Zivilisation, welche sich von anderen in der Welt unterschied, doch leider wird auch dieser Aspekt nur marginal behandelt.

Weil die eigentliche Analyse des Europa-Begriffes bei Bismarck ausbleibt, hat Dominik Haffer daher im Kern eine sehr detaillierte Darstellung der außenpolitischen Vorstellungen Otto von Bismarcks zwischen 1848 und 1874 geschrieben. Die Stärke der Arbeit liegt in der – für die Jahre 1848 bis 1874 – gründlichen und detailreichen Recherche von Quellen und Literatur. Eine um analytische Schärfe bemühte Systematisierung des Europa-Begriffes oder auch nur eine Analyse des europäischen Mächtesystems bleibt demgegenüber leider in Andeutungen stecken.

Anmerkung:
1 Lothar Gall, Bismarck-Preußen, Deutschland und Europa, in: Deutsches Historisches Museum (Hrsg.), Bismarck-Preußen, Deutschland und Europa, Berlin 1990, S. 25-34, hier S. 27.

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